Marion Kalter

Photographs

Cadavre Exquis

PHOTONEWS 04/22
Die Fotonomadin/ Thomas Honickel

Retrospektive der Salzburger Fotografin Marion Kalter Rupertinum

Es ist selten dass man einer Debütantin von 71 Jahren begegnet. Aber im Falle von Marion Kalter verhält es sich so; stösst man nicht zufällig auf ihre umfangreiche Website, lässt sich so gut wie nichts über sie eruieren. Es ist fast im Geheimen entstandenes Werk. Das Rupertinum in Salzburg hat mit dieser Ausstellung (Kuratorinnen: Barbara Herzog und Kerstin Stremmel) also einen veritablen Coup gelandet. Anfang der 70er Jahre hatte Kalter Malerei und Kunstgeschichte studiert, als Dolmetscherin stiess sie zu den Rencontres in Arles, wo sie auf Fotografen wie Ralph Gibson und Mary Ellen Mark traf. Ihre Gier nach Kreativität muss damals masslos gewesen sein, denn sie begann intuitiv, ernsthaft zu fotografieren.
Die Welt von gestern war schwarzweiss. Und Marion Kalter hat deren künstlerische
Milieus in Paris eingefangen wie niemand anderes. Alles, was vor dem magischen Jahr 1968, das nie geahnte Freiheitsräume aufstiess, eine Nischendasein fristete, war jetzt für alle da. Die amerikanischen Beat Poets besuchten Paris wie die farbigen Jazz-Musiker, die zum Festival in Juan-les-Pins einflogen. James Baldwin lebte hier und bald folgte auch Susan Sonntag. Anaïs Nin war schon lange da wie die amerikanische Expressionistin Joan Mitchell. Kalter war in Ihren Wohnungen oder Hotelzimmern, zog mit Ihnen durch die Stadt, war bei Lesungen oder Vernissagen dabei oder reiste mit Ihnen nach Tanger- Mit Ted Joans, Schöpfer von “Jazz Poems” verband sie sogar eine lange Freundschaft(All around Ted Joans.ZKM 2016-dort im Shop noch bestellbar). William Burroughs, Allen Ginsberg, Gregory Corso. Oder Musiker wie Dizzy Gillespie und Charlie Mingus, auf Kalter’s Fotos geben sie sich ungezwungen wie die einheimischen Ikonen Roland Barthes, Theoretiker der “Dinge des Alltags”, oder Ethnologe Michel Leiris, Künstlerin Meret Oppenheim oder Filmerin Agnes Varda. Kalter fotografierte sozusagen backstage als Teil der Szene von Kunst, Musik und Poesie. Paris sorgte plötzlich für eine Art Revival des legendären New Yorker Village inkl. black power. “Man besitzt was man sieht”, zitiert Kalter ein altes Roma-Sprichwort in einem Interview von 2002: Und “ immer wollte ich die Sicht einer kleinen Maus haben”- also alles sehen und schnell weg. Und der Fotoapparat war dabei für “emanzipatorisches Ausdruckswerkzeug” (Florian Ebner im Katalog). So kann die Bandbreite ihrer Porträtfotografie durchhaus entlarvend sein: Während sich Susan Sontag (Über Fotografie) gekonnt und gelöst in einem Türrahmen lehnt, tut Roland Barthes(Die helle Kammer) alles um den Akt des Fotografiertwerdens zu desavouiren: Er schaut links aus dem Fenster und dadurch aus dem Bild heraus. Kalters Interesse galt gedoch auch den neuen Strömungen in der klassischen Musik. So begegnen wir auf Ihrer Webseite www.marionkalter.com oder bei www.bridgemanimages.com Portraits von Neutönern wie John Cage oder Steve Reich, Karlheinz Stockhausen oder massgeblichen Italienern wie Luciano Berio oder Luigi Nono, aber auch Slawen wie György Kurtag und György Ligeti in selten intimen Momenten. Die Arbeit von Pierre Boulez verfolgte sie immerhin 30 Jahre lang (Silent Piece, ZKM 2013). Es muss Kalter in die Wiege gelegt worden sein, denn schon als Zweijährige durfte sie den Fotoapparat Ihrer Eltern bedienen; entstanden sind ein Porträt Ihrer Mutter in grosser Garderobe, der Kopf ist abgeschnitten, aber auf den ersten Blick denkt man an Madame Yevonde. Ein zweites Bild Ihrer Eltern ist richtig belichtet, aber völlig unscharf, selbst Spezialisten würden auf moderne konzeptuelle Fotografie tippen. Anfang der 70er Jahre fotografierte sie ihre französische Umgebung mit einem grossen Talent für Komisches: Auf manchen Bildern erwartet man den Stechschritt von Monsieur Hulot oder einen Zornausbruch des von Louis de Funes gespielten Dorfgendarmen.
Wer aber ist diese Marion Kalter, die in den langen Jahren ihrer Fotografentätigkeit nur wenige Spuren mit kleinen Publikationen und Ausstellungen hinterlassen hat?
Beim Schlendern durch die Salzburger Schau erkennt man ziemlich schnell die geborene Fotonomadin, für die das On-the-road Sein massgeblich für Ihre Arbeit ist.
Da zeigt sie uns nämlich den Reisepass eines jüdischen Vetters ihres Vaters, dessen Flucht und Auswanderungsweg in den 30er Jahren über Russland und dem Ural bis nach Asien und dann über den Pazifik nach Kalifornien ging. Noch vor wenigen Jahren ist sie dieser Route mit der Transsibirischen Eisenbahn selbst gefolgt. Ihrer Bildserie gibt sie mit “Different Trains” den selben Titel wie Steve Reich seinen fulminanten “minimal music piece”, das das Rattern der Deportationszüge aufnimmt.
Verrät sie uns damit, so etwas wie ein weiblicher Ahasver zu sein, ein Beatnik ausserhalb von Raum und Zeit? In der Tat sind ihre Fotoserien wie Fragmente einer Sprache des Erinnerns, konsequent auf der Suche nach sich selbst. Geboren 1951 als Tochter eines jüdischen Vaters, der in die USA geflohen war, sowie einer österreich katolischen Mutter, die zur selben Zeit Fronttheater für die Nazis gemacht hatte, wächst sie in Amerika und später in Frankreich auf. Mit sechszehn verliert sie Mutter wie Grossmutter. 1976 beginnt sie, sich selbst im Haus ihrer Kindheit zu inszinieren, spielt geschickt mit dem Raum, leert die Schränke und reisst die Fenster auf. Diese Zerissenheit sieht Kuratorin Kerstin Stremmel in der Nicht-Abgeschlossenheit undA-Linearität ihres Werkes gespiegelt, das für sie eine “Konstruktion narrativer Identität” darstellt. Viele ihrer Bilder von Pariser Strassens- zenen oder erste inszinierte Szenen im Ferienhaus ihrer Kindheit in Chabenet, so Stremmel, korrespondieren mit dem Erfolgsbuch der unlängst-viel zu spät, genauso wie Marion Kalter selbst- zu Ruhm gekommenen Französin Annie Ernaux, “etwas von der Zeit zu retten, in der man nie wieder sein wird.” Vielleicht war Kalter mehr an den Verlusten interessiert, an den “Lücken, diesen entsetslichen Lücken”(Joachim Meyerhoff titelte einen Roman so), die der Tod reisst. Wie John Cage, von dem Kalter phantastische Portraits schuf, mit 4’33’’ 1952 ein Musikstück “komponierete”-bei der nur Stille zu hören war. Oder Ted Joans mit den “Outographien” Fotografien im Geiste der Surrealisten schuf, bei denen die Hauptsache stets geschnitten war, fotografierte Kalter zuletzt nurmehr rüdimentäre Spuren ihres Lebens oder ihrer Liebsten, wie sie sich im Laufe eines Lebens in Schachteln angesammelt haben und jetzt entsorgt werden müssen. Tiefer zurückgehen in der Zeit ist nicht möglich. Denn der Tod ist immernoch das grösste Abenteuer. W.G. Sebald hat uns gelehrt, das die Toten nach wie vor unter uns sind. Und sie sprechen auch zu uns. Jeden Tag aufs Neue.


Leonora Carrington in her studio in Mexico City 1997


Cecil Taylor Vence 1976


Martha Graham Opera de Paris 1984


Roland Barthes Paris 1979


Emmanuel Levinas Paris 1985








Marguerite Duras à Paris en 1981 Marguerite Duras in Paris 1981






Joyce Mansour chez elle à Paris en 1977 Joyce Mansour at her home in Paris 1977


Mimi parent chez elle à Paris en 1977 Mimi Parent at her home in Paris 1977




Leonora Carrington chez elle à Mexico D.F. en 1998 Leonora Carrington at her home in Mexico City in 1998







Anaïs Nin à la librairie Shakespeare and Company, Paris 1975 Anaïs Nin at the bookshop Shakespeare and Company, Paris 1975








Pierre Boulez rehearses a work by Luciano Berio, Luciano Berio listening with Ensemble Intercontemporain, Paris 1989



Luigi Nono in Paris 1985









Andy Warhol & Alain Pacadis Galerie Samia Saouma Paris 1977